Es war einmal ein kleines Dorf, in dem die Menschen unermüdlich arbeiteten. Sie jagten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ihren Aufgaben hinterher und dachten stets an die nächste Ernte, die nächste Mahlzeit, den nächsten Tag. Ihr Leben war gefüllt mit endlosen Listen und Plänen… – und sie sagten einander oft: „Ich habe keine Zeit! Ich habe keine Zeit!“

Inmitten des Dorfes lebte eine alte Frau, die die Menschen „Großmutter Zeit“ nannten. Sie war still und sanft – und oft konnte man sie an einem kleinen Brunnen sitzen sehen, wie sie Wasser schöpfte oder leise mit den Vögeln sprach. Die Dorfbewohner schätzten sie, doch sie hatten kaum je die Muße, lange bei ihr zu verweilen.

Eines Abends, als die Sonne tief am Horizont stand, kam ein junger Mann namens Leo zu ihr. Er setzte sich auf den Brunnenrand und seufzte schwer. „Großmutter“, begann er, „ich weiß nicht, was ich falsch mache. Ich arbeite hart, ich spare und plane, aber es ist, als würde mein Leben an mir vorbeiziehen. Die Tage verfliegen, ich fühle mich leer – und irgendwie fühlt es sich an, als hätte ich die Zeit verloren.“

Die alte Frau lächelte sanft und nickte, als hätte sie genau auf diese Frage gewartet. „Komm morgen früh zum Brunnen, Leo“, sagte sie, „und bring nichts mit – nur dich selbst.“

Am nächsten Morgen kam Leo… noch völlig verschlafen – und fand die Großmutter bereits am Brunnen. Sie hielt zwei kleine Gläser in der Hand, jedes mit einer winzigen Sanduhr darin. „Dies hier“, sagte sie und hob eines der Gläser, „ist deine Zeit.“

Leo betrachtete die Sanduhr verwundert. „Was bedeutet das?“

„Der Sand in dieser Uhr sind deine Tage, Stunden und Minuten“, erklärte die Großmutter. „Wenn du immer nur an das Morgen denkst, dann fließt der Sand hindurch, ohne dass du ihn wirklich bemerkst.“ Sie drehte die kleine Sanduhr langsam um… so dass der Sand Körnchen für Körnchen sichtbar fiel. „Doch wenn du innehältst, auch nur für einen Moment, wirst du merken, wie kostbar ,jedes einzelne Korn ist.“

Leo sah dem gefallenen Sand nachdenklich zu und es schien ihm, als könnte er zum ersten Mal die Ruhe in den winzigen Körnern erkennen. „Aber Großmutter“, sagte er schließlich, „ich kann doch nicht den ganzen Tag hier sitzen und den Sand beobachten.“

Die Großmutter lächelte. „Es geht nicht darum, dass du aufhörst, deine Aufgaben zu erfüllen, Leo. Es geht darum, dass du dir jeden Tag Augenblicke nimmst, um bewusst zu leben. Zeit ist wie Wasser – wenn du es festhalten willst, entgleitet es dir. Doch wenn du es achtsam schöpfst, kannst du es trinken – und dann nährt es dich.“

„Aber was bedeutet es, achtsam zu schöpfen?“ fragte Leo leise.

„Es bedeutet, die Momente zu sehen, die du oft übersiehst“, sagte die Großmutter sanft. „Die Wärme der Sonne, das Teilen einer Mahlzeit mit anderen, das gemeinsame Lachen, ein tiefes Atemholen in der Natur. Diese Dinge scheinen im ersten Augenblick vielleicht winzig klein… – doch genau sie sind es, die deinen Tag lebendig machen. Sie sind der Sand, den du wirklich spüren kannst.“

An diesem Tag begann Leo, die Welt um sich herum anders wahrzunehmen. Er arbeitete weiter, doch er nahm sich jeden Tag ein wenig Zeit – ein paar bewusste Atemzüge am Morgen, kleine Momente, um mit anderen zu sprechen und zu lachen, ein kleines Innehalten, bevor er ins Bett ging, um für den Tag zudanken.

Und langsam, eigentlich fast unmerklich, veränderte sich etwas in ihm. Die Tage flogen nicht mehr einfach dahin und die Momente schienen sich zu verweben, ihm Tiefe und Zufriedenheit zu schenken. Er spürte, dass er die Zeit nicht länger verlor – sondern dass sie irgendwie immer mehr wurde – je bewusster er mit ihr umging. Dass sie zu einem lebendigen Fluss wurde, der ihn erfüllte und nährte – wie Wasser, das sanft um seine Seele floss.

Und so lebte Leo weiter: Nicht als einer, der die Zeit jagte – sondern als einer, der sie liebte. Einer, der jedes Sandkorn würdigte, bevor es fiel.

Und die Menschen im Dorf? Sie bemerkten eines Tages, dass die Sanduhren in den Händen der Großmutter ihnen allen gehörten, dass jeder seine eigene Zeit in Händen hielt – und dass sie nur darauf wartete, gelebt zu werden.


Song für die Seele

 

Genieß dein Leben, denn du lebst nur jetzt und heute. Morgen kannst du gestern nicht nachholen… – und später kommt vielleicht früher als du denkst!